Ein kritischer Blick auf unsere Traditionen
Die meisten Pfadfinder*innen kennen unseren Gründungsvaters BiPi. Um seine Lebensgeschichte geht es zum Beispiel in Baustein 3a der Modulausbildung oder im Film „Scouting Sunrise“. Kritisch beleuchtet werden die Stationen seines Lebens dort häufig nicht. BiPi war Mitglied des britischen Militärs und in seiner Funktion als Fährtensucher unter anderem in Indien und Südafrika eingesetzt. Bei beiden handelt es sich um Länder, die durch Großbritannien kolonialisiert wurden. Südafrika wurde 1931 unabhängig, Indien im Jahr 1947. Damit ist die Entstehung der Pfadfinder*innen eng mit der kolonialen Vergangenheit Großbritanniens verbunden.
Auch in der deutschen Pfadfinder*innengeschichte gibt es Persönlichkeiten, die eng mit der deutschen Kolonialgeschichte verbunden sind. Dazu gehören unter anderem Dr. Alexander Lion und Maximilian Bayer, die gemeinsam BiPis „Scouting for Boys“ ins Deutsche übertrugen.
Dr. Alexander Lion war Militärarzt und unter anderem in der Kaiserlichen Schutztruppe in Deutsch-Südwestafrika (im heutigen Namibia) eingesetzt, Maximilian Bayer gehörte zum Oberkommando der Schutztruppe. Beide waren dort während des Feldzugs gegen die Herero und Nama tätig.
In ihrer Übersetzung von „Scouting for Boys“ ersetzen sie BiPis Erlebnisse in Südafrika durch ihre eigenen Geschichten der Militärzeit in Deutsch-Südwestafrika. Die Übersetzung wurde 1909 unter dem Titel „Das Pfadfinderbuch“ publiziert, welches es heute noch zu kaufen gibt.
Deutsche Kolonialgeschichte in Namibia
Die Kolonialisierung von Namibia begann im 19. Jahrhundert. Der deutsche Kaufmann Franz Adolf Lüderitz „kaufte“ das Land im Jahr 1883 von den dort ansässigen Nama. 1884 erklärte das Deutsche Kaiserreich dieses Gebiet zum „Schutzgebiet Deutsch-Südwestafrika“, es wurde „Lüderitzland“ genannt und war die erste deutsche Kolonie. Die deutschen Kolonialherren etablierten ein rassistisches System – Deutsche bildeten die Oberschicht und enteigneten und unterdrückten die Einwohner*innen des Landes.
Die kolonialisierten Volksgruppen nahmen dies nicht widerstandslos hin. Die Herero und Nama starteten einen Aufstand. Die brutale Niederschlagung dieses Aufstands durch deutsche Truppen ist erst seit 2015 von Deutschland als Völkermord anerkannt.
www.dw.com/de/chronologie-deutschland-namibia-kolonie-geschichte/a-57763153
„Gefundene“ Klötzchen
Nicht nur die Gründung der Pfadfinderei ist durch den Kolonialismus geprägt, sondern auch unsere Traditionen. Mit Beendigung der Woodbadge-Ausbildung werden Leiter*innen das Woodbadge-Tuch und Klötzchen verliehen. Um die Klötzchen ranken sich unterschiedliche Entstehungslegenden. Eine davon ist, dass BiPi während seiner Militärzeit in Südafrika eine 3,5 Meter lange Kette des Zulukönig Dinizulu gefunden oder geschenkt bekommen hätte. Gefunden oder geschenkt – das klingt, als hätte der Zulukönig ihm diese Kette freiwillig gegeben. Bei den meisten kolonialen Artefakten – in Deutschland wurde beispielsweise immer wieder über die Rückgabe der Benin-Statuen diskutiert – handelt es sich um Raubgut.
Heute verbinden wir die Klötzchen nicht mehr primär mit ihrer Herkunftsgeschichte. Für jeden haben sie eine ganz eigene Bedeutung, sollen an den Woodbadge-Kurs erinnern und verbinden uns mit der (internationalen) Pfadfinder*innenarbeit. Die historische Bedeutung rückt für die einzelne Person in den Hintergrund und doch sollte man sich bewusst machen, dass der Mythos um die Kette nicht gesichert der Wahrheit entspricht. Dies sollte in Publikationen rund um die Pfadfinder*innengeschichte und den Woodbadge-Kurs auch so vermittelt werden.
Was denkt ihr?
Kennt ihr noch weitere Traditionen, in denen wir koloniale Spuren wiederfinden? Gibt es in eurem Stamm eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? Habt ihr euch beispielsweise einmal mit dem Namenspatron eures Stamms auseinandergesetzt?
Wenn ihr mehr über die geschichtlichen Hintergründe erfahren möchtet, schaut euch gerne unser E-Learning zur Jahresaktion an.